Ulrich Bähr ist Geschäftsführer und Initiator von CoWorkLand, einer Genossenschaft Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein. Bähr zeichnet verantwortlich für die strategische Entwicklung von CoWorkLand.
Experiment
Coworking ist in Großstädten ein gut gehendes Geschäftsmodell. Doch wie ist es auf dem Land? Bei einem Feldversuch haben Mitarbeiter*innen der Heinrich-Böll-Stiftung SH herausgefunden, dass gemeinschaftliches Arbeiten auch im ländlichen Raum Interessenten findet. Im Sommer 2018 startet der Testballon: eine Prototyping-Tour mit Coworking-Spaces. Mehrere Monate touren die Initiatoren um Ulrich Bähr durch den Osten Schleswig-Holsteins. Sie bringen mobile temporäre PopUp-Arbeitsplätze in städtische und ländliche Regionen und wollen herausfinden, welche Orte für Coworker attraktiv sind. Ausgebaute Frachtcontainer bieten jeweils bis zu acht internetfähige Arbeitsplätze und zusätzlich freie Arbeitsgelegenheiten auf einer Terrasse.
Was Coworker suchen
Die Container machen Station an Gutshöfen, Stränden, Seeufern und öffentlichen Plätzen. Einige logistische Voraussetzungen müssen vor Ort vorhanden sein: schnelles Internet, Strom, Toiletten und Wasser, dazu guter Kaffee, schöne Ausblicke und vor allem: nette, offene, interessante Leute. Auf ihrer Reise mit den mobilen Arbeitsplätzen erfahren die Mitarbeiter*innen der Stiftung, was genau die Coworker suchen. Kollaboration, Konzentration, Kommunikation, Austausch – diese Wünsche nennen die Nutzer von Coworking-Spaces am häufigsten – neben dem Bedarf am Arbeitsraum selbst. Ulrich Bähr: „Den meisten Coworkern geht es nicht unbedingt um Platz oder Arbeitsraum, sondern um sozialen Anschluss, darum sich zu vernetzen.“
Unterschiede in Stadt und Land
Bei der Auswahl der Orte, an denen die Container aufgebaut wurden, leisten Kreativschaffende vor Ort wertvolle Unterstützung. Bähr ist mit ihnen in ständigem Austausch. Partizipative Zusammenarbeit mit Akteuren bzw. Kokreation wird immer wichtiger, wenn Projekte gelingen sollen, insbesondere wenn sie Neuland betreten. Nach gut einem Jahr haben Bähr und seine MitarbeiterInnen wertvolle Einblicke in die konkreten Wünsche und Bedürfnisse erhalten: „Konzepte für Coworking-Spaces innerhalb einer Stadt lassen sich eher übertragen als auf dem Land. Während das Mindset der Coworker in der Stadt relativ ähnlich ist, sind die Kulturen auf dem Land wegen der Menschen eher unterschiedlich.“ Doch egal ob in der Stadt oder auf dem Land: Coworking beflügelt Innovationen.
Eine Erfolgsgeschichte hat Ulrich Bähr miterlebt: „Ein Pensionär aus München kam erwartungsvoll zu CoWorkLand. Er hatte dort gerade sein Sanitätshaus aufgegeben, war in ein kleines Dorf bei Kiel gezogen und wollte nun einen Onlineshop für Rollstühle aufbauen. Er traf in unserem Coworking-Space zufällig auf einen etwa 30 Jahre jüngeren Mann aus einem anderen Dorf, der gerade einen Onlineshop für orthopädische Kissen aufbaute. Es gab Synergien und beiden taten sich zusammen. Eine schöner Kooperation, gewachsen auf einem Acker hinterm Deich am Schönberger Strand bei Kiel.“
Solidarprinzip
Es finden sich immer mehr couragierte Akteure, die das Experiment wagen und einen eigenen Coworking-Space aufbauen bzw. betreiben wollen. Doch die meisten haben immensen Beratungsbedarf. Die Fragen der Coworker von morgen ähneln sich: Welche Rechtsform soll ich wählen? Welches Personal brauche ich? Wie regele ich Buchhaltung und Steuern? Welche Versicherungen sind nötig? Wie komme ich an Fördermittel? „Es gibt eine Menge Hürden, die die Leute überwinden müssen“, weiß Ulrich Bähr. „Da wir nach einem halben Jahr 50 solcher Akteure hatten, haben wir gesagt: OK. Ihr konzentriert euch auf die Dinge vor Ort, die Coworkings zu gestalten. Und wir gründen eine Genossenschaft, um genau die organisatorisch-verwaltenden Themen zentral zu bearbeiten und Euch damit zu unterstützen. Inzwischen sind wir ein Netzwerk von fast 50 GenossInnen.“ Im Februar 2019 wird CoWorkLand zum gemeinschaftlichen Dach unter Federführung der Heinrich-Böll-Stiftung. Das genossenschaftliche Denken entspricht voll und ganz dem Selbstverständnis und den Werten der Stiftung. Im Fokus stehen das Solidarprinzip sowie eine nachhaltige und gemeinwohlorientierte Unternehmensführung.
Bildung, Medien, Nachhaltigkeit
Die spannenden Verbindungslinien zwischen analog und digital beschäftigen Ulrich Bähr schon sehr lange. Er ist ursprünglich als „Digitalisierer“ zur Heinrich-Böll-Stiftung nach Kiel gekommen. Nach dem Studium der Medienwissenschaft ist er einige Jahre bei Volkswagen tätig. Um die Jahrtausendwende sind die Berührungsängste gegenüber digitalen Bildungsangeboten noch groß. Bähr experimentierte zur Frage, wie sich Mobilität und Medienkompetenz für Jugendliche verbinden lassen. Wenig später machte sich Bähr selbständig, arbeitete weiterhin für VW, aber auch für andere Kunden. Im Fokus stehen: Bildung, neue Medien, Internet, vor allem auch Nachhaltigkeit. Seine Kunden sind Greenpeace, der WWF, Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung, Bundesrat, viele Landesparlamente. Der Weg zur Bildungsstiftung in Kiel ist geebnet, denn auch die Böll-Stiftung sucht in dieser Zeit nach neuen Formaten und Methoden für die Vermittlung. Im Juni 2016 übernahm Ulrich Bähr bei der Stiftung die Projektleitung „Digitalisierung & ländliche Räume“.
PODCAST-Interview mit Ulrich Bähr
Antje Hinz interviewte Ulrich Bähr für die Studie (2020): Standortoffensive Westmecklenburg: Wirtschaftsförderung 4.0 durch Kultur- und Kreativwirtschaft. Online-Umfrage, qualitative Interviews und Strategiekonzept. Hier mehr…
Coworkland.de/
boell-sh.de/
Text: Antje Hinz